D. Gerster u.a. (Hrsg.): Schülerinnen- und Schülerleben im 19. und frühen 20. Jahrhundert

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Titel
Schülerinnen- und Schülerleben im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Aufwachsen, Alltag und Freizeit von Schülerinnen und Schülern höherer Schulen im deutschen Sprachraum und ihre Erforschung


Herausgeber
Gerster, Daniel; Groppe, Carola
Erschienen
Bad Heilbrunn 2023: Verlag Julius Klinkhardt
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sandra Wenk, Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Der vorliegende Sammelband geht von einer bereits länger beklagten Leerstelle (erziehungs-)historischer Forschung aus.1 Trotz umfassender Beschäftigung mit der Geschichte von Jugend und Jugendlichen sowie einem neuen Interesse an der Kindheitsgeschichte und damit verbundenen Appellen, die Agency von Heranwachsenden ernst zu nehmen, sind Schüler:innen als soziale Gruppe und Akteur:innen bisher kaum berücksichtigt worden. Der von Daniel Gerster und Carola Groppe herausgegebene Band verfolgt nun den Anspruch, sich „erstmals intensiv mit der Frage [auseinanderzusetzen], wie sich Aufwachsen, Alltagsleben und Freizeitverhalten von Schülerinnen und Schülern höherer Schulen gestalteten und welche Wege ihrer Erforschung es gibt“ (S. 10). Er bezieht sich (mit Ausnahme eines komplementär angelegten Beitrags) auf höhere Schulen im deutschsprachigen Raum im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wie Gerhard Kluchert in der inhaltlichen, die Forschung systematisierenden Einführung mit Blick auf den Anteil dieser Schüler:innengruppe an den Gleichaltrigen herausstellt, werden damit „ausgesprochene Ausnahmeerscheinungen“ fokussiert. Zwar war der Schulbesuch für fast alle Heranwachsenden seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer Alltagserfahrung geworden, jedoch besuchte nur ein geringer Anteil eines Jahrgangs höhere Schulen. Erst gegen Ende der ersten deutschen Republik, so argumentiert Kluchert, habe sich das Schüler:innensein an den höheren Schulen von „einem exklusiven Randphänomen zu einer gängigen und stilbildenden Jugend-Gestalt“ gewandelt (S. 18). Diese Engführung ist zu berücksichtigen. Doch besteht die Produktivität des Zuschnitts darin, dass der Band die Heterogenität dieser Gruppe höherer Schüler:innen demonstriert und dabei unterschiedliche Zugänge sowie die Analyse verschiedener Quellenarten vereint. Der Begriff des Schüler:innenlebens ist gut gewählt, weil er im Gegensatz zu den vorliegenden kulturhistorischen schulgeschichtlichen Arbeiten vor allem außerunterrichtliche Aspekte in den Blick nimmt. Als Beitrag zur im deutschsprachigen Raum weitgehend vernachlässigten Alltagsgeschichte von Schule stellt der Band einen anregenden Perspektivwechsel zur lange dominierenden Struktur- und derzeit bestimmenden Expert:innen- und Wissensgeschichte dar.2

Mehrere Beiträge beschreiben die Ausbildung einer Schüler:innenkultur an höheren Schulen im Spannungsfeld von schulischen Anforderungen und neu entstandenen Möglichkeitsräumen von Jugendlichen. Joachim Scholz widmet sich frühen Schülerzeitungen, deren Anfänge er entgegen der gängigen Deutung nicht auf pädagogische Ambitionen unter dem Einfluss von Jugendbewegung und Reformpädagogik zurückführt, sondern auf Aktivitäten von Schülern selbst „unter dem Eindruck des sich ausbreitenden Pressewesens und einer sich etablierenden Schulöffentlichkeit und Schülerkultur an den höheren Schulen“ (S. 44). Vor allem seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hätten sich einige überregionale Zeitungen mit hoher Auflage entwickelt. Sie blickten zum Teil spöttisch auf den Schulalltag und waren doch von ihm geprägt, da etwa die Themenstellungen Einflüsse des Aufsatzunterrichts erkennen ließen und die Haltung der Schreibenden einen gymnasialen Habitus offenbarte.

Die männliche Schülerkultur an den höheren Schulen war zudem durch eine Peerkultur charakterisiert, die sich an studentischen Zusammenschlüssen orientierte. Dennis Mathie und Carola Groppe zeigen, dass das in Deutschland weit verbreitete Pensionswesen – im frühen 20. Jahrhundert lebte bis zu ein Fünftel der höheren Schüler zeitweise in privaten Pensionen außerhalb ihres Heimatortes – Schülern Freiräume verschaffte und begünstigte, dass sich gleichaltrige Jugendliche in Korporationen zusammenschlossen. Anders als an der Universität waren diese Verbindungen streng verboten, was den eigenen Rechtsstatus von Schülern deutlich macht und vermutlich auf unterschiedliche Leitbilder beider Institutionen verweise.

Li Gerhalter untersucht Erinnerungspraktiken wie den Austausch von Fotografien oder Poesiealben in deutschen und österreichischen Mädchenschulen des frühen 20. Jahrhunderts. In ihnen schlugen sich zeitspezifische Emotionen, wie zum Beispiel Schwärmereien gegenüber Mitschülerinnen und Lehrerinnen, aber auch schulische Hierarchien nieder, die durch technische Neuerungen wie Amateurfotoapparate mitunter unterlaufen worden seien. Die rege Zirkulation der Erinnerungsgegenstände und deren genaue Dokumentation durch die Schülerinnen führt Gerhalter jedoch auf eine „Identifikation mit der Institution Schule“ (S. 157) zurück.

Die Leistungsanforderungen und Bildungsaspirationen höherer Schüler:innen bilden einen weiteren Schwerpunkt. Denise Löwe verfolgt am Beispiel von sogenannten „Bildungsgängen“ des frühen 20. Jahrhunderts – von Abiturient:innen im Kontext der Reifeprüfung zu verfassende Texte über ihren bisherigen Bildungsweg –, wie Schüler sich in Zeiten der Öffnung der höheren Bildung zu den an sie gestellten Ansprüchen positionierten. In den Lebensläufen werden neben dem deutlichen Einfluss der sozialen Herkunft Unterschiede zwischen Freizeitaktivitäten und außerschulischen Bildungsinteressen erkennbar. Während die Schüler des humanistischen Gymnasiums die Freizeit vor allem alleine und mit „auf einen Kanon der Hochkultur“ (S. 86) begrenzten Aktivitäten verbrachten, beschrieben Realgymnasiasten und Oberrealschüler stärker gemeinschaftliche und jugendkulturell geprägte Tätigkeiten. Es wäre lohnend, diesem interessanten Hinweis auf die schulform- und schichtspezifische Freizeitgestaltung und ihrem Wandel weiter nachzugehen.

In Tagebüchern von männlichen Jugendlichen sei der Schulbesuch erstaunlich wenig präsent, hält Sylvia Wehren für die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert fest. Zwar fänden sich summarische Berichte zu Stundenplänen, Unterrichtsmethoden und Lehrpersonen wie zu besonderen Ereignissen. Das Alltägliche und „der eigene Status als Schüler“ (S. 113) hingegen seien kaum thematisiert worden. Demgegenüber seien individuelle Bildungsprojekte akribisch dokumentiert und berufliche Ambitionen reflektiert worden. Hieran schließt sich die Frage an, ob aus diesen ersten Befunden eher Schlüsse über die kulturelle Praxis des Tagebuchführens oder das Verhältnis bildungsbürgerlicher Jungen zur Schule zu dieser Zeit gezogen werden können.

Dass sich Schüler zu den an sie gestellten Leistungsnormen eigensinnig verhielten, zeigt Daniel Gerster anhand einer Auswertung von Schülerbriefen der Internatsschule Pforta. Die Jungen verfolgten „sehr unterschiedliche Strategien des Erwartungsmanagements“ (S. 130) und betonten bei schulischem Misserfolg etwa Erfolge auf anderen Gebieten. Auch Gerster beschreibt Schülerverbindungen als „Zentrum einer alternativen ‚eigensinnigen‘ ‚Schülerkultur‘“ (S. 122), zu der Initiationsriten, Alkohol und Gewalt gehörten, wobei sich die Briefe vor allem auf Andeutungen beschränkten.

Zwei Beiträge widmen sich der erinnerten Schulzeit. Elke Kleinau befasst sich mit Lehrerinnenbildungsanstalten im Nationalsozialismus und stellt eine nachhaltige Prägung der Absolventinnen fest, die sich darin äußere, dass die Schulzeit als aufregende, unpolitische Episode erinnert werde. Pia Schmid argumentiert anhand von Autobiografien von Protagonistinnen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung, dass nur in den Texten letzterer die soziale Klassenzugehörigkeit thematisiert wurde. Dabei ist eine aufschlussreiche Pointe, dass der (außerschulische) Bildungs- und Politisierungsprozess letztlich auch bei diesen Frauen zur Entwicklung eines (bürgerlichen) Ideals von Kindheit und Jugend als Moratorium beitrug.

Weitere Beiträge behandeln Aspekte wie Schulreisen (Gräbe), stellen Überlegungen zu einem kindheitswissenschaftlichen Zugriff auf das Internatsleben an (Leitner), kontrastieren das Schulleben an höheren Schulen mit der Schulsituation von in der Fabrikarbeit beschäftigten Kindern (Schütz) und skizzieren die Überlieferungssituation der Schulen aus archivarischer Sicht (Holzapfl, Hermes-Wladarsch).

Der Band demonstriert, welche Potentiale die Schüler:innengeschichte hat. Zu seinen Vorzügen zählen die Überlegungen zu geeigneten Quellen und deren differenzierte Analysen. Schüler:innen werden darin als Akteur:innen begriffen, ohne dass die Machtverhältnisse, in denen sie standen, außer Acht gelassen werden. Die Ergebnisse bestätigen zumeist Befunde zur bürgerlichen Sozialisation.3 Hier erscheint es gewinnbringend, noch genauer nach den Spezifika schulischer Bildung im bürgerlichen Aufwachsen zu fragen, vor allem aber auch andere Schulmilieus einzubeziehen. Dass sehr verschiedene Facetten des Schüler:innenseins betrachtet werden, ist Stärke und Schwäche zugleich, denn damit stellt sich auch die Frage nach den übergreifenden Erkenntnisinteressen und Perspektiven einer Schüler:innengeschichte. Zwar werden ältere Deutungen, die Kluchert einführend anspricht, etwa der Prozess der Scholarisierung als Disziplinierung, differenziert; übergreifende Fragen werden aber insgesamt wenig diskutiert. Bevor also weitere Details des Schüler:innenalltags bis zum „Pausenbrot“ (S. 31) ausgeleuchtet werden, wäre es gewinnbringend, noch stärker die größeren Anschlussperspektiven in Geschichts- und Erziehungswissenschaft herauszustellen. Der gewählte Untersuchungszeitraum ist fraglos zentral, weil in ihm Schule nicht nur zu einer neuen zentralen Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche, sondern das erfolgreiche Absolvieren auch zur Voraussetzung „sozialen Aufstiegs und sozialer Reproduktion“ (S. 201) wurde. Diesem grundlegenden Wandel für das Aufwachsen und der neuen Rolle, die der Schulbesuch etwa für politische Sozialisation oder die Erfahrung sozialer Ungleichheit hatte – gerade nicht nur als Ort der Vermittlung, sondern auch als sozialer Raum von Gleichaltrigen – sollte weiter nachgegangen werden. Dabei wäre es lohnend, die Schüler:innenperspektive nicht allein für den engeren Bereich der Schulgeschichte, sondern auch für weitere Bereiche der Kindheits- und Jugendgeschichte wie zum Beispiel jugendliche Sexualität oder Massen- und Konsumkultur zu verfolgen.

Insgesamt wirft der Band Grundfragen der Schulgeschichte auf, wie sie schon lange nicht mehr gebündelt diskutiert wurden und er demonstriert zudem, wie wichtig eine stärkere Verschränkung von Kindheits- bzw. Jugend- und Schulgeschichte ist. Es wäre daher nur wünschenswert, wenn diese Impulse aufgegriffen würden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Andreas Gestrich, Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die Historische Sozialisationsforschung, Tübingen 1999, S. 134–135.
2 Zu den Erträgen letzterer im Bereich der Schüler:innengeschichte vgl. Philipp Eigenmann / Thomas Ruoss, Schüler∗innen in der historischen Bildungsforschung, in: Hedda Bennewitz / Heike de Boer / Sven Thiersch (Hrsg.), Handbuch der Forschung zu Schülerinnen und Schülern, Münster 2022, S. 22–32.
3 Vgl. dazu Carola Groppe, Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918, Wien 2018.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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